Liedtext
heutige Schreibweise
Eh' die Sonne früh aufersteht,
Wenn aus dem dampfenden Meer
Herauf und herunter das Morgenrot weht,
Voranfährt mit dem leuchtenden Speer -
Flattern Vöglein dahin und daher,
Singen fröhlich die Kreuz und die Quer,
Ein Lied, ein jubelndes Lied.
Was freut, ihr Vöglein, euch allzumal
So herzig im wärmenden Sonnenstrahl?
»Wir freu'n uns, daß wir leben und sind,
Und daß wir luft'ge Gesellen sind.
Nach löblichem Brauch
Durchflattern wir fröhlich den Strauch;
Umweht vom lieblichen Morgenwind
Ergetzet die Sonne sich auch.«
Was sitzt ihr Vöglein [stumm]1 und geduckt
Am Dach im mosigen Nest? -
»Wir sitzen, weil uns die Sonn' nicht [beguckt]2;
Schon hat sie die Nacht in die Wellen geduckt:
Der Mond allein,
Der liebliche Schein,
Der Sonne lieblicher Widerschein,
Uns in der Dunkelheit nie verläßt -
Darob wir im Stillen uns freu'n.«
O Jugend, kühlige Morgenzeit!
Wo wir, die Herzen geöffnet und weit,
Mit raschem und erwachenden Sinn
Der Lebens-Frische uns erfreut,
Wohl flohst du dahin! - dahin! -
Wir Alten sitzen geduckt im Nest! -
Allein der liebliche Widerschein
Der Jugendzeit,
Wo wir im Frührot uns erfreut,
Uns auch im Alter [nicht]3 verläßt -
Die stille, sinnige Fröhlichkeit! -
1 Schubert: "so stumm"
2 Werner (Berlin, 1803): "bekuckt"
3 Schubert (Neue Gesamtausgabe): "nie"
Zum Text
Friedrich Ludwig Zacharias Werner veröffentlichte 1803 im Verlag bei Johann Daniel Sander, Berlin 1803 sein dramatisches Gedicht Die Söhne des Thales veröffentlicht. Im ersten Teil Die Templer auf Cypern steht das hier vertonte Gedicht im fünften Auftritt auf Seite 30, gesungen von Philipp (mit Gartenarbeit beschäftigt, sic!)
In der Österreichischen Nationalbibliothek kann ein Digitalisat dieses Drucks angesehen werden.4

Die Söhne des Thales