Liedtext
heutige Schreibweise
»Gib mir die Fülle der Einsamkeit!«
Im Tal, von Blüten überschneit,
Da ragt ein Dom, und nebenbei
In hohem Stile die Abtei:
Wie ihr Begründer, fromm und still,
Der Müden Hafen und Asyl.
Hier kühlt mit heiliger Betauung
Die nie versiegende Beschauung.
Doch den frischen Jüngling quälen
Selbst in gottgeweihten Zellen
Bilder, feuriger verjüngt;
Und ein wilder Strom entspringt
Aus der Brust, die er umdämmt,
Und in einem Augenblick
Ist der Ruhe zartes Glück
Von den Wellen weggeschwemmt.
»Gib mir die Fülle der Tätigkeit!«
Menschen wimmeln weit und breit,
Wagen kreuzen sich und stäuben,
Käufer sich um Läden treiben,
Rotes Gold und heller Stein
Lockt die Zögernden hinein,
Und Ersatz für Landesgrüne
Bieten Maskenball und Bühne.
Doch in prangenden Palästen,
Bei der Freude lauten Festen,
Sprießt empor der Schwermut Blume,
Senkt ihr Haupt zum Heiligtume
Seiner Jugend Unschuldslust,
Zu dem blauen Hirtenland
Und der lichten Quelle Rand.
Ach, daß er hinweggemußt!
»Gib mir das Glück der Geselligkeit!«
Genossen, freundlich angereiht
Der Tafel, stimmen Chorus an
Und ebenen die Felsenbahn.
So geht's zum schönen Hügelkranz
Und abwärts zu des Stromes Tanz,
Und immer mehr befestiget sich Neigung
Mit treuer, kräftiger Verzweigung.
Doch, wenn die Genossen schieden,
Ist's getan um seinen Frieden.
Ihn bewegt der Sehnsucht Schmerz,
Und er schauet himmelwärts:
Das Gestirn der Liebe strahlt.
Liebe, Liebe ruft die laue Luft,
Liebe, Liebe atmet Blumenduft,
Und sein Innres Liebe hallt.
»Gib mir die Fülle der Seligkeit!«
Nun wandelt er in Trunkenheit
An ihrer Hand in schweigenden Gesprächen,
Im Buchengang an weißen Bächen,
Und muß er auch durch Wüsteneien,
Ihm leuchtet süßer Augen Schein;
Und in der feindlichsten Verwirrung
Vertrauet er der Holden Führung.
Doch die Särge großer Ahnen,
Siegerkronen, Sturmesfahnen
Lassen ihn nicht fürder ruhn,
Und er muß ein Gleiches tun,
Und wie sie unsterblich sein.
Sieh, er steigt aufs hohe Pferd,
Schwingt und prüft das blanke Schwert,
Reitet in die Schlacht hinein.
»Gib mir die Fülle der Düsterheit!«
Da liegen sie im Blute hingestreut,
Die Lippe starr, das Auge wild gebrochen,
Die erst dem Schrecken Trotz gesprochen.
Kein Vater kehrt den Seinen mehr,
Und heimwärts kehrt ein ander Heer,
Und denen Krieg das Teuerste genommen,
Begrüßen nun mit schmerzlichem Willkommen.
So deucht ihm des Vaterlandes Wächter
Ein ergrimmter Bruderschlächter,
Der der Freiheit edel Gut
Düngt mit rotem Menschenblut;
Und er flucht dem tollen Ruhm
Und tauschet lärmendes Gewühl
Mit dem Forste grün und kühl,
Mit dem Siedlerleben um.
»Gib mir die Weihe der Einsamkeit!«
Durch dichte Tannendunkelheit
Dringt Sonnenblick nur halb und halb,
Und färbet Nadelschichten falb.
Der Kuckuck ruft aus Zweiggeflecht,
An grauer Rinde pickt der Specht,
Und donnernd über Klippenhemmung
Ergeht des Gießbachs kühne Strömung.
Was er wünschte, was er liebte,
Ihn erfreute, ihn betrübte,
Schwebt mit sanfter Schwärmerei
Wie im Abendrot vorbei.
Jünglings Sehnsucht, Einsamkeit,
Wird dem Greisen nun zu Teil,
Und ein Leben rauh und steil
Führte doch zur Seligkeit.
Zum Text
Bei dem vorliegenden Gedicht handelt es sich um eine Variation der Stufen des menschlichen Lebens, den Idealtypen eines Männerlebens.
Johann Mayrhofer veröffentlichte seine Gedichte 1824 bei der eher kleinen Verlagsbuchhandlung Friedrich Volke in Wien. Diese Veröffentlichung ist als Digitalisat in der Österreichischen Nationalbibliothek online studierbar. Das Gedicht findet sich auf den Seiten 135. 2.1
Da Schubert üblicherweise die Gedichte Mayrhofers als Manuskript erhielt und diese sofort vertonte, verwundert es nicht, dass für die späteren Drucklegung der Einsamkeit zahlreiche Änderungen durch Mayrhofer vorgenommen wurden.

Johann Mayrhofer