Liedtext
heutige Schreibweise
Antigone:
Ihr hohen Himmlischen erhöret
Der Tochter herzentströmtes Flehn1:
Laßt einen kühlen Hauch des Trostes
In Oedips2 große Seele wehn.
Genüget, euren Zorn zu sühnen,
Dieß junge Leben - nehmt es hin;
Und eurer Rache Strahl3 vernichte
Die tief betrübte Dulderin.
Demütig falte ich die Hände -
Das Firmament bleibt glatt und rein,
Und stille ist's, nur laue Lüfte
Durchschauern noch den alten Hain.
Was seufzt und stöhnt der bleiche Vater?
Ich ahn's - ein furchtbares Gesicht
Verscheucht von ihm den leichten Schlummer;
Er springt vom Rasen auf - er spricht:
Oedip:
Ich träumte4 einen schweren Traum.
Schwang nicht den Zepter diese Rechte?
Doch Hoheit lös'ten starke Mächte
Dir auf, o Greis, in nicht'gen Schaum.
Trank ich in schönen Tagen nicht
In meiner großen Väter Halle,
Beim Heldensang und Hörnerschalle,
O Helios, dein golden Licht,
Das ich nun nimmer schauen kann?
Zerstörung ruft von allen Seiten:
"Zum Tode sollst du dich bereiten;
Dein irdisch Werk ist abgetan."
1 Schubert: "Flehen"
2 Schubert: "des Vaters"
3 Schubert: "euer Rachestrahl"
4 Schubert: "träume"
Zum Text
Die Geschichte handelt von Antigone, die ihren blinden Vater in die Verbannung nach Kolonos bei Athen begleitet. Antigone ist aus der inzestuösen Beziehung ihres Vaters Ödipus mit seiner Mutter Iokaste hervorgegangen. Über den dazugehörigen Mythos kann man sich beispielsweise bei Wikipedia informieren.
Johann Mayrhofer war 30 Jahre alt, als er dieses Gedicht schrieb. Er veröffentlichte seine Gedichte 1824 bei der eher kleinen Verlagsbuchhandlung Friedrich Volke in Wien. Diese Veröffentlichung ist als Digitalisat in der Österreichischen Nationalbibliothek online studierbar. Das Gedicht findet sich auf den Seiten 163-164.5

Oedipus and Antigone - Per Wickenberg