Liedtext
heutige Schreibweise
Mit leisen Harfentönen,
Sei Wehmut, mir gegrüßt!
O Nymphe, die der Tränen
Geweihten Quell verschließt!
Mich weht an deiner Schwelle
Ein linder Schauer an,
Und deines Zwielichts Helle
Glimmt [ob]1.1 des Schicksals Bahn.
Du, so die Freude weinen,
Die Schwermut lächeln heißt,
Kannst Wonn' und Schmerz vereinen,
Daß Harm in Lust verfleußt;
Du hellst bewölkte Lüfte
Mit Abendsonnenschein,
Hängst Lampen in die Grüfte
Und krönst den Leichenstein.
Du nahst, wenn schon die Klage
Den Busen sanfter dehnt,
Der Gram an Sarkophage
Die müden Schläfe lehnt,
Wenn die Geduld gelassen
Sich an die Hoffnung schmiegt,
Der Zähren Tau im nassen,
Schmerzlosen Blick versiegt.
Du, die auf Blumenleichen
Des Tiefsinns Wimper senkt,
Bei blätterlosen Sträuchen
Der Blütenzeit gedenkt;
In Florens bunte Kronen
Ein dunkles Veilchen webt,
Und still, mit Alcyonen,
Ob Schiffbruchstrümmer schwebt.
O du, die sich so gerne
Zurück zur Kindheit träumt,
Selbst ihr Gewölk von Ferne
Mit Sonnengold besäumt:
Was ihr Erinn'rung schildert
Mit Westkarmin verbrämt,
Der Trennung Qualen mildert,
Und die Verzweiflung zähmt;
Der Leidenschaften Horden,
Der Sorgen Rabenzug,
Entfliehn vor den Akkorden,
Die deine Harfe schlug;
Du zauberst Alpensöhnen,
Verbannt auf Flanderns Moor,
Mit Sennenreigen-Tönen
Der Heimat Bilder vor.
In deinen Schattenhallen
Weihst du die Sänger ein;
Lehrst junge Nachtigallen
Die Trauermelodein;
Du neigst, wo Gräber grünen,
Dein Ohr zu Hölty's Ton;
Pflückst Moos von Burgruinen
Mit meinem Matthisson.
Führ unter Tränenweiden
O Nymphe, mich zum Ziel!
Verschmilz auch Gram und Leiden
In süßes Nachgefühl;
Gib Stärkung dem Erweichten!
Heb' aus dem Trauerflor,
Wenn Gottes Sterne leuchten,
Den Andachtsblick empor!
Zum Text
Johann Gaudenz von Salis-Seewis und Friedrich Matthisson verband eine lebenslange Freundschaft, die sich unter anderem durch die Widmung im vorliegenden Gedicht offenbart. Matthisson besorgte 1793 die Veröffentlichung der Gedichte von Salis-Seewis in Zürich. Bei Orell, Gessner, Füssli & Comp. auf den Seiten 14f. erscheint das Gedicht Die Wehmut. Ein Digitalisat der Veröffentlichung kann man als Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek online studieren. 2.1 & 2.2
In den Anmerkungen der Gedichtausgabe schreibt der Herausgeber:
Der Gram an Sarkofage.
Steinerne, meistens mit erhobnem Bildwerk verzierte Särge bei den Alten.
Und still, mit Alcyonen.
Alcyone, eine Tochter des Aolus, war so untröstbar über den Tod ihres Gemahls Ceyx, der im Meere ertrank, daß Thetis beide, aus Mitleid, in Alcyonen verwandelte. Dieser Ufervogel ist bei den Dichtern oft ein Bild stiller Trauer auf dem weiten Meere.
Verbannt auf Flanderns Moor.
Nirgends ist, nach alter Erfahrung, das Heimweh der Schweizer stärker, als auf den traurigen Moorflächen von Flandern.
Mit Sennenreigen-Tönen.
Die unter dem Namen des Kuhreigens (Rans-des-Vaches) berühmte Lieblingsmelodie der helvetischen Hirtenvölker
S. Rousseau, Diet, de Musique, Art. Musique.

Johann Heinrich Lips
Salis-Seewis 1800