Liedtext
heutige Schreibweise
Ein Fräulein schaut vom hohen Thurm
Das weite Meer so bang;
Zum trauerschweren Zitherschlag
Hallt düster ihr Gesang;
"Mich halten Schloß und Riegel fest,
Mein Retter weilt so lang."
Sei wohl getrost, du edle Maid!
Schau hinterm Kreidenstein
Treibt in der Buchtung Dunkelheit
Ein Kriegesboot herein:
Der Aarenbusch, der Rosenschild,
Das ist der Retter dein!
Schon ruft des Hunen Horn zum Streit,
Hinab zum Muschelrain.
"Willkommen, schmucker Knabe, mir!
Bist du zu Stelle kummen?
Gar bald vom schwarzen Schilde dir
Hau' ich die gold'nen Blumen.
Die achtzehn Blumen, blutbethaut,
Les' deine königliche Braut
Auf aus dem Sand der Wogen,
Nur flink die Wehr gezogen!"
Zum Thurm aufschallt das Schwerdtgeklirr!
Wie harrt die Braut so bang!
Der Kampf dröhnt laut durch's Waldrevier,
So heftig und so lang!
Und endlich, endlich däucht es ihr,
Erstirbt der Hiebe Klang.
Es kracht das Schloß, die Thür klafft auf,
Die ihren sieht sie wieder,
Sie eilt im athemlosen Lauf
Zum Muschelplane nieder.
Da liegt der Peiniger zerschellt,
Doch weh! dicht neben nieder,
Ach! decken's blutbespritzte Feld
Des Retters blasse Glieder.
Still sammelt sie die Rosen auf
In ihren keuschen Schooß
Und bettet ihren Lieben drauf,
Ein Thränchen stiehlt sich los!
Und thaut die breiten Wunden an,
Und sagt: ich, ich hab' das gethan!
Da fraß es einem Schandgesell
Des Raubes im Gemüth,
Daß die, die seinen Herrn verdarb,
Frei nach der Heimath zieht.
Vom Busch, wo er verkrochen lag
In wilder Todeslust,
Pfeift schnell sein Bolzen durch die Luft,
In ihre keusche Brust.
Da ward ihr wohl im Brautgemach,
Im Kiesgrund, still und klein;
Sie senkten sie dem Lieben nach
Dort unter einem Stein,
Den ihr, von Diesteln überweht,
Noch nächst des Turmes Trümmern seht.
Zum Text
Joseph Kenner schrieb sein Gedicht am 3. Juni 1814 im Alter von 19 Jahren.