Liedtext
heutige Schreibweise
Vor Thebens siebenfach gähnenden Toren
Lag im furchtbaren Brüderstreit
Das Heer der Fürsten zum Schlagen bereit,
Im heiligen Eide zum Morde verschworen.
Und mit des Panzers blendendem Licht
Gerüstet, als gält es die Welt zu bekriegen,
Träumen sie jauchzend von Kämpfen und Siegen,
Nur Amphiaraos, der Herrliche, nicht.
Denn er liest in dem ewigen Kreise der Sterne,
Wen die kommenden Stunden feindlich [bedrohn]1.1.
Des Sonnenlenkers gewaltiger Sohn
Sieht klar in der Zukunft nebelnde Ferne.
Er kennt des Schicksals verderblichen Bund,
Er weiß, wie die Würfel, die eisernen, fallen,
Er sieht die [Moira]1.2 mit blutigen Krallen,
Doch die Helden verschmähen den [heil'gen]1.3 Mund.
Er sah des Mordes gewaltsame Taten,
Er wußte, was ihm die Parze spann.
So ging er zum Kampf, ein verlorner Mann,
Von dem eignen Weibe schmählich verraten.
Er war sich der himmlischen Flamme bewußt,
Die heiß die kräftige Seele durchglühte,
Der Stolze nannte sich Apolloide,
Es schlug ihm ein göttliches Herz in der Brust.
"Wie? - ich, zu dem die Götter geredet,
Den der [Weisheit]1.4 heilige Düfte umwehn,
Ich soll in gemeiner Schlacht vergehn,
Von Periklymenos Hand getötet?
Verderben will ich durch [eigne]1.5 Macht,
Und staunend vernehm' es die kommende Stunde,
Aus künftiger Sänger geheiligtem Munde,
Wie ich kühn mich gestürzt in die ewige Nacht."
Und als der blutige Kampf begonnen,
Und die Ebne vom Mordgeschrei wiederhallt,
So ruft er verzweifelnd: "Es naht mit Gewalt,
Was mir die untrügliche Parze gesponnen.
Doch wogt in der Brust mir ein göttliches Blut,
Drum will ich auch wert des Erzeugers verderben."
Und wandte die Rosse auf Leben und Sterben,
Und jagt zu des Stromes hochbrausender Flut.
Wild schnauben die [Hengste]1.6, laut rasselt der Wagen,
Das Stampfen der Hufe [zermalmt]1.7 die Bahn.
Und schneller und schneller noch rast es heran,
Als gält' es, die [flücht'ge]1.8 Zeit zu erjagen.
Wie wenn er die Leuchte des Himmels geraubt,
Kommt er [im]1.9 Wirbeln der Windsbraut geflogen;
Erschrocken heben die Götter der Wogen,
Aus schäumenden Fluten das schilfichte Haupt.
[Doch]1.10 plötzlich, als wenn der Himmel erglühte,
Stürzt ein Blitz aus der heitern Luft,
Und die Erde zerreißt sich zur furchtbaren Kluft;
Da rief laut jauchzend der Apolloide:
"Dank dir, Gewaltiger, fest steht mir der Bund,
Dein Blitz ist mir der Unsterblichkeit Siegel,
Ich folge dir, Zeus!" - und er faßte die Zügel,
Und jagte die Rosse hinab in den Schlund.
1.1 Schubert (Neue Gesamtausgabe): "bedrohen"
1.2 Schubert: "Möira"
1.3 Schubert: "heiligen"
1.4 Schubert: "Wahrheit"
1.5 Schubert: "eigene"
1.6 Schubert: "Rosse"
1.7 Schubert: "zermalmet"
1.8 Schubert: "flüchtige"
1.9 Schubert (Alte Gesamtausgabe): "in"
1.10 Schubert: "Und"
Zum Text
Theodor Körners Gedicht Amphiaraos erschien erstmals 1810 in seinem Gedichtband Knospen auf Seite 91ff.
Weitere Ausgaben seiner Gedichte:

Dora Stock
Theodor Körner 1814