Liedtext
heutige Schreibweise
Sitz' ich im Gras am glatten See,
Beschleicht die Seele [süßes]1 Weh,
[Wie Aeolsharfen klingt]2 mich an
[Ein unnennbarer Zauberwahn]3.
Das Schilfrohr neiget seufzend sich,
Die Uferblumen grüßen mich,
Der Vogel klagt, die Lüfte wehn,
Vor [Schmerzeslust]4 möcht' ich vergehn!
Wie mir das Leben kräftig quillt
Und sich in raschen Strömen spielt.
Wie's bald in trüben Massen gährt,
Und bald zum Spiegel sich verklärt.
Bewußtseyn meiner tiefsten Kraft,
Ein Wonnemeer in mir erschafft.
Ich stürze kühn in seine Fluth
Und ringe um das höchste Gut!
O Leben bist so himmlisch schön,
In deinen Tiefen, in deinen Höhn.
Dein freundlich Licht soll ich nicht sehn,
Den finstern Pfad des Orkus gehn?
Doch bist du mir das Höchste nicht:
Drum opfr' ich freudig dich der Pflicht.
Ein Strahlenbild schwebt mir voran,
Und mutig wag' ich's Leben dran!
Das Strahlenbild ist oft betränt,
Wenn es durch meinen Busen brennt,
Die Tränen weg vom Wangenrot,
Und dann in tausendfachen Tod.
Du warst so menschlich, warst so hold,
O großer deutscher Leopold!
Die Menschheit [füllte]5 dich so ganz
Und reichte dir den Opferkranz.
Und hehr geschmückt sprangst du hinab,
Für Menschen in das Wellengrab.
Vor dir erbleicht, o Fürstensohn,
Thermopylae und Marathon!
Das Schilfrohr neiget seufzend sich,
Die Uferblumen grüßen mich,
Der Vogel klagt, die Lüfte wehn,
Vor Schmerzeslust möcht' ich vergehn!
1 Schubert (Friedlaender): "banges"
2 Schubert (Friedlaender): "Mit Geisterarmen rührt"
3 Schubert (Friedlaender): "Geheimnisvoller Zauberbann"
4 Schubert (Friedlaender): "Schmerzenslust"
5 Schubert (Alte Gesamtausgabe): "fühlte"
Zum Text
Der im Gedicht von Mayrhofer genannte Leopold war Maximilian Julius Leopold von Braunschweig-Wolfenbüttel, Prinz von Braunschweig-Wolfenbüttel, Neffe des preußischen Königs Friedrich II. Er ertrank bei der großen Oderflut 1785 im Alter von 32 Jahren. Einer Legende nach wollte er vom Hochwasser eingeschlossene Bürger retten. Diese Legende wurde offenbar widerlegt, aber in der Bevölkerung hielt sie sich trotzdem. Dies erklärt auch, warum sich Dichter wie Goethe und Herder und eben auch Mayrhofer dazu hinreißen ließen, dieses Mannes und der ihm zugeschriebenen Taten mit Gedichten zu gedenken. 6
Johann Mayrhofer veröffentlichte seine Gedichte 1824 bei der eher kleinen Verlagsbuchhandlung Friedrich Volke in Wien. Diese Veröffentlichung ist als Digitalisat in der Österreichischen Nationalbibliothek online studierbar. Das Gedicht findet sich auf Seite 6. 7

Johann Mayrhofer